Das war der Wahnsinn
Utphe hat 660 Einwohner, doch einst hat der Turn- und Sportverein in der Region zu den schillerndsten Fußball- klubs gehört. Selbst der große FC Bayern München war 1977 im kleinen Hungener Stadtteil zu Gast. Bis Mitte der 80er Jahre ging es dank eines großzügigen Mäzens steil bergauf bis in die Landesliga. Dann kam der große Fall. Eine Zeitreise mit Gerd Neunobel, der immer mittendrin war.
Gerd Neunobel ist ein Utpher Urgestein. Der 70-Jährige hat alle Höhen und Tiefen des TSV aus seinem Heimatdorf miterlebt - und davon gab es einige. Als 1987 die komplette Mannschaft den TSV verließ, blieb nur einer - Neunobel. Bereut hat er es nie. »Das ist einfach mein Verein«, sagt Neunobel heute. Bereut hat er auch nicht die Zeit, in der es in dem beschaulichen Ort turbulent zuging. »Was hier los war, das war der Wahnsinn«, sagt er lächelnd mit dem Abstand von vier Jahrzehnten.
Die Jubiläums-Feierlichkeiten zum 90. Bestehen des TSV fielen 2020 wie bei so vielen Vereinen der Pandemie zum Opfer. Da wären sicher wieder viele Anekdoten erzählt worden, aus den 70er und 80er Jahren, als der TSV Utphe für überregionale Schlagzeilen sorgte. Selbst der »Kicker« berichtete seinerzeit großformatig über den Dorfverein, bei dem sich eine Zeit lang regionale Fußball-Prominenz auf dem Platz tummelte.
»Ich wollte immer hier spielen, und ich hatte das Riesenglück, dass unser Mäzen Georg Oppermann in Utphe verheiratet war und sich hier in die Politik und in den Sport vollkommen eingebracht hat. Mit ihm ging’s einfach bergauf. Alles, was der angepackt hat, hat funktioniert«, blickt Neunobel zurück. Selfmade-Mann Oppermann, der als gelernter Postbeamter in die Immobilien-Branche eingestiegen war, ließ sich sein Hobby einiges kosten und ermöglichte den steilen Aufstieg der Fußballer. Zwischen 1977 und 1983 ging es innerhalb von fünf Jahren aus der B-Liga bis in die Landesliga hinauf, in der die Hungener auch für Furore sorgten.
Bayern-Stars flüchten durch das Fenster
»Wir waren immer dran, in die A-Klasse aufzusteigen«, erinnert sich Neunobel. 1977 war es so weit - damals allerdings noch mit überschaubarer Verstärkung aus der Region, aber mit einem Trainer Hans Nicolai, der Eindruck hinterließ: »Das war keiner, der uns nur über die Wiese gescheucht hat. Bei ihm war alles anders, wir haben fußballtechnisch richtig viel gelernt. Da war System dahinter«, sagt Neunobel. Zum Aufstieg gönnte Sponsor Opperman den TSV-Kickern ein besonderes Geschenk: Er fädelte ein Freundschaftsspiel gegen den FC Bayern München ein, der am Tag nach der Bundesligapartie in Frankfurt mit fast allen Stars nach Utphe kam. »Nur der Beckenbauer war nicht mehr dabei, weil der den nächsten Flug nach New York genommen hatte. Er ist ja dann zu Cosmos gewechselt«, erzählt Neunobel: »Das war schon gewaltig, vor 4000, 5000 Zuschauern zu spielen. Die Bayern haben uns ein bisschen hin und her gescheucht, sich selbst aber nicht mehr angestrengt.« Allerdings bedauert er noch heute, dass die Profis sich direkt nach dem Spiel, das sie 11:0 gewonnen hatten, davonschlichen. »Auf einmal ist der Bus an der Straße lang gefahren. Die sind im Sportheim hinten durch die Fenster rausgesprungen - und waren weg.« Es blieb aber der Beiname Cosmos Utphe, den der TSV nach dem Gastspiel der Münchner und dem Beckenbauer-Transfer zur Star-Truppe in den USA bekam - und durchaus mit Stolz trug.
In der Saison 1978/79 waren die Utpher dann mit Spielertrainer Herbert Schäty auf dem Sprung in die Bezirksliga. »Das war der zweite Trainer, bei dem ich unwahrscheinlich viel gelernt habe. Der hat vom Fußball alles gewusst«, sagt Neunobel. Am vorletzten Spieltag stand beim Dauerrivalen VfR Lich quasi ein »Endspiel« um den Aufstieg an. »Wir sind als Spitzenreiter mit einem Punkt Vorsprung nach Lich gefahren und mit einem Punkt Rückstand zurückgekommen. Das war vielleicht ein Scheiß«, wurmt das TSV-Urgestein noch heute die 0:1-Niederlage vor 3000 Zuschauern.
Fast wäre auch Hölzenbein gekommen
Im Jahr darauf schaffte aber auch das bereits ordentlich verstärkte Utpher Team den Aufstieg, etablierte sich sogleich an der Spitze, musste am Ende der Saison 1981/82 als Vizemeister aber wiederum den Lichern den Aufstieg in die Landesliga überlassen. Die Folge: Oppermann machte den Geldbeutel noch weiter auf und der TSV verpflichtete beispielsweise Bernd Kammer, der aus der 2. Liga von Wormatia Worms zurück in die Heimat kam, oder Profi Wolfgang Trumpf von Kickers Offenbach. Schon zuvor hatten lokale Größen wie Bernd Freitag oder Walter Rinker in Utphe angeheuert. Mit 17 Punkten Vorsprung auf den TSV Klein-Linden marschierten die Utpher 1983 in die Landesliga und erlebten die Blüte ihres Aufschwungs. »Wir haben schon einige tolle Kicker hier gehabt«, sagt Neunobel. »Selbst der Bernd Hölzenbein war bei uns im Sportheim. Der sollte auch hier spielen. Das hat dann aber leider doch nicht geklappt.« Die Eintracht-Legende wechselte nach 420 Spielen für die SGE 1981 in die USA und beendete dort seine Karriere.
»Dorfverein hin, Dorfverein her: Wir wollten weiterkommen. Und wir haben trainiert dafür, haben alles gegeben. Ich fand das nicht komisch zu diesem Zeitpunkt«, sagt Neunobel, der sich aber auch erinnert, dass der TSV vielerorts mit großem Argwohn betrachtet wurde. »Die Zuschauer von anderen Vereinen haben uns oft beschimpft ohne Ende. Wenn von uns einer gefoult wurde und liegenblieb, haben die Zuschauer gerufen: ›Steckt ihm einen Hunderter in die Stutzen, dann läuft er wieder.‹«
Der Erfolg auf dem Platz - auch in der Landesliga mischte der TSV in den folgenden beiden Jahren in der Spitzengruppe mit - war das eine, die Erlebnisse im Umfeld das andere. Mäzen Oppermann ermöglichte ungeahnte Möglichkeiten - Teamreisen nach Finnland, Österreich oder Griechenland und Trainingslager in Bad Homburg sind nur einige Beispiele. »Als wir für drei Tage in Bad Homburg waren, hat der Oppermann samstags mit einem Bus die Familien, Frauen und Freundinnen in Utphe abholen lassen und dann gab’s da die große Party - sensationell«, erzählt Neunobel, winkt ab und lacht: »Was wir in der Zeit alles erlebt haben, das kannst du gar nicht alles erzählen. Du hättest bekloppt gewesen sein müssen, wenn du zu dem Zeitpunkt irgendwo anders hingegangen wärst. Hier war immer was los.«
Ein Vereinswechsel wäre für Neunobel ohnehin nie infrage gekommen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich so hoch spielen könnte«, sagt der Allrounder: »Wo’s gefehlt hat, wurde ich eingesetzt. In erster Linie war ich immer der Libero, in zweiter Linie war ich Mittelfeldspieler, weil ich ein gutes Auge hatte und rechts wie links schießen konnte. Und Vollstrecker-Qualitäten hatte ich auch.« Obwohl Oppermann, der Mann mit dem Koffer, dem TSV vieles ermöglichte, dürfe man eines nicht vergessen, betont Neunobel: »Wir haben immer hart dafür gearbeitet und viel Zeit investiert. Wenn ich mir das heute überlege: Ich hatte ja auch einen normalen Job und daheim Landwirtschaft. Das alles hat auch nur funktioniert, weil meine Frau Martina mitgespielt hat.«
Im Sommer 1985 bekam die Utpher-Fußball-Welt in der Landesliga erste Risse. Spielertrainer Schäty und Torjäger Bernd Kammer kehrten dem TSV den Rücken, der als Elfter den Klassenerhalt schaffte. Im Jahr darauf verließen sechs weitere Leistungsträger, die nicht ersetzt werden konnten, den Verein, dessen Talfahrt 1987 zum Abstieg in die Bezirksliga führte. Danach verließen alle Spieler der ersten Mannschaft den TSV Utphe - bis auf Neunobel.
Skandal um Neue Heimat wird dem TSV zum Verhängnis
Zum Verhängnis war dem Klub indirekt auch der Skandal um die Neue Heimat geworden - Europas größter Wohnungsbaukonzern zerbrach durch Missmanagement und Selbstbereicherung und wurde 1986 für den symbolischen Preis von einer D-Mark verkauft. Durch diese Pleite versiegte auch die Geldquelle der Hungener: »Der Oppermann hat sein Geld bei der Neuen Heimat verdient. Dem ist dann ein Projekt nach dem anderen flöten gegangen. Der hat uns den Hahn zugedreht, weil ihm der Hahn zugedreht wurde«, erklärt Neunobel.
Immerhin ging es in Utphe mit dem Fußball weiter - ein Antrag auf Rückstufung in die B-Liga lehnte der Verband ab, und so startete der TSV mit Spielern der eigentlichen 2. Mannschaft in der Bezirksliga und erlebte eine ganz bittere Saison: Mit 0:60 Punkten wurde er 1988 in die A-Klasse durchgereicht. »So etwas vergisst du auch nie. Jede Woche haben wir acht, zehn, zwölf Dinger kassiert. Das beste Ergebnis hatten wir gegen den ASV Gießen, gegen den damaligen Meister. Da haben wir nur 0:6 verloren«, erinnert sich der 70-Jährige, der in diesem Spiel als Torwart aufgeboten worden war.
Der TSV war wieder in der A-Liga und damit dort, wo er ohne das große Geld wohl auch hingehörte. Und er bastelte an seiner eigenen »Neuen Heimat«. Mit dem TV Trais-Horloff wurde eine Spielgemeinschaft eingegangen, für die sich auch Neunobel stark gemacht hatte und in der er lange Jahre im Spielausschuss Verantwortung trug. Inzwischen ist er seit 32 Jahren im TSV-Vorstand, war zwölf Jahre Fußball-Abteilungsleiter und kümmert sich heute noch immer um den Sportplatz und das Sportheim.
»Dass wir damals auf die Füße gekommen sind, lag daran, dass damals fünf, sechs talentierte Spieler aus der Jugend gekommen sind. In den 90er Jahren ging es dann wieder richtig vorwärts. Viele haben uns ja immer vorgeworfen, dass wir keine Jugendarbeit machen würden - das hat nie gestimmt. Auch noch als wir als TSV Utphe allein waren, hatten wir schon die JSG mit Trais-Horloff und Inheiden.« Apropos Inheiden: Der SV aus dem Nachbarort schloss sich der SG im Jahr 2002 an, die seit dem als SG Utphe/Trais-Horloff-Inheiden firmierte - und jetzt noch einmal durch den SV Langd Zuwachs erhält. Die vier Hungener Vereine spielen ab dieser Saison als FSG Horlofftal mit der ersten Mannschaft in der Kreisliga A Gießen. Und auch im Jugendbereich sieht Neunobel den TSV Utphe als Teil des JFV Wetterau, dem außerdem der FC Wohnbach, der SKV Obbornhofen, der KSV Berstadt, der TSV Bellersheim sowie der SV Inheiden und der TV Trais-Horloff angehören, gut aufgestellt.
»Die Zeiten haben sich halt geändert. Das Freizeitangebot ist heute einfach viel größer, und der Fußball spielt bei den meisten nicht mehr die große Rolle«, sagt Neunobel ohne Wehmut. Er ist dankbar, die turbulenten Jahre bei seinem TSV Utphe erlebt zu haben: »Das war eine verrückte Zeit, die ich auf keinen Fall missen möchte.«
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